Barbara Willert: Denken mit den Händen
Auszug aus dem Ausstellungskatalog: Birgitta Weimer. Connectedness, Heidelberg 2024 Ausstellung im Museum Ritter, Waldenbuch 13.10.2024 bis 21.04.2025
Birgitta Weimer hat in den letzten 40 Jahren ein bildhauerisches Œuvre von hoher auratischer Qualität entwickelt. Ihre Werke bewegen sich im Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft, wodurch sie gleichermaßen sinnlich wie intellektuell faszinieren. Eine klare, reduzierte Gestaltung verbindet sich darin mit Formschöpfungen, die im Dialog mit den Natur- und Geisteswissenschaften entstanden sind. Die Bildhauerin konzentriert sich in ihren Arbeiten auf Themen, die Grundfragen des Lebens und der menschlichen Existenz berühren. Vor allem Erkenntnisse und Fragestellungen aus dem Bereich der Biowissenschaften, aber auch aus Physik, Anthropologie und Philosophie inspirieren sie zu konzeptuell ausgefeilten plastischen Werken. Ökologische Problematiken klingen zuweilen ebenso an wie poststrukturalistische Denkweisen.
…Mitunter sind ihre Werke von bestimmten Lebensformen inspiriert. Die Medusen (2012) etwa muten mit ihren halbrunden Schirmkörpern aus Glasfaserkunststoff und den daraus erwachsenden Dickichten aus feinen Plastikschläuchen wie riesenhafte Quallen an. Schön und bedrohlich zugleich strahlt ihr leuchtendes Scharlachrot in den Raum. Die Künstlerin spielt mit den bis zu 2,70 Meter hohen Arbeiten auf die ökologisch bedenkliche Vermehrung und Vergrößerung der Nesseltiere infolge der Erwärmung der Weltmeere an, die sogenannte Verquallung oder Jellyfication. Auch ihre Plateaus (2024) beziehen sich auf marines Leben. Die Werkgruppe besteht aus fünf unterschiedlich großen, runden Plattformen in mattem Schwarz. Sie dienen als Bühne für lockere Arrangements aus ebenso schwarzen Halbkugeln, auf denen organische Formgebilde wachsen. Weimer verweist damit auf die von allerlei Meerestieren bevölkerten Manganknollenfelder in der Tiefsee. Weil diese reich an industriell nutzbaren Metallen sind, werden sie seit einigen Jahren verstärkt abgebaut – ungeachtet möglicher negativer Folgen für die Umwelt und den Menschen. Zunehmend um die Natur besorgt, setzt sich die Künstlerin auch in den Plateaus mit einer beängstigenden meeresökologischen Schieflage im Anthropozän auseinander. Trotz gewisser formaler Analogien zu im Meer vorhandenen Daseinsformen gleiten weder die Plateaus noch die Medusen ins Illustrative oder oberflächlich Imitierende ab.
Das in den M-Spaces anklingende Thema der Vernetzung ist zentral im Œuvre der Künstlerin. Es bestimmt auch ihre variable Wandinstallation Cellular Circulation (2015). Erneut treffen hier flexible Linienstrukturen auf präzise stereometrische Formen. Transluzente Halbkugeln wölben sich wie schützende Schirme über Knotenpunkte, an denen blutrote „Leitungen“ aus Vinnylan-Schlauch zusammenlaufen respektive sich verzweigen. Tänzelnd kurven die Linien von einer Schnittstelle zur anderen und fügen sich zu einem geschlossenen Kreislauf, der verschiedene Möglichkeiten der Konnektivität impliziert. So kann Cellular Circulation als sinnliche Visualisierung eines variablen Organisationssystems gelesen werden. Visuell erinnert die Arbeit an Strukturen der mikroskopischen und makroskopischen Anatomie – etwa an Körperzellen, Blutkörperchen oder an Adern. Obendrein spielt ihr Titel auf den Begriff der Zirkulationszelle an, der in der Meteorologie für die Beschreibung der atmosphärischen Zirkulation verwendet wird. Dennoch wird das Werk nicht als wissenschaftliches Modell wahrgenommen, was auch daran liegen dürfte, dass die Installation neben reduktiver Eleganz auch spielerische Leichtigkeit vermittelt.
Beides bestimmt auch die imposante Installation Rhizom (2009). Das energisch geschwungene Lineament der raumgreifenden Plastik ähnelt dem titelgebenden Wurzelgeflecht bestimmter Pflanzen. Weimer bringt hier das Stilmittel der bildhauerischen Vergrößerung radikal im wortwörtlichen Sinn zum Einsatz. Das Naturvorbild wird derart ins Riesenhafte gesteigert, dass wir als Betrachtende dagegen klein erscheinen. Zudem wird die vegetabile Vorlage durch die blutrote Farbe der Schlauch-Linien verfremdet. Inhaltlich bezieht sich die Künstlerin mit dieser Arbeit vor allem auf das von Gilles Deleuze und Félix Guattari ausformulierte Konzept des rhizomatischen Denkens, das sie nachhaltig beeindruckte. Das Rhizom aus der Pflanzenwelt dient in diesem Denkmodell als Metapher für eine grundlegend freie und offene Art des Transfers von Ideen und Wissen. Die fruchtbare Verflechtung unterschiedlicher Konzepte und ein flexibles Crossover von Wissensbereichen treten bei rhizomatischen Prozessen der Informationsverarbeitung an die Stelle starrer, linearer Denkmuster. Zu welch starken Ergebnissen ein antihierarchisches Denken führen kann, zeigt Weimers Rhizom eindrücklich: Gemeinschaftlich sind die Linienstränge in der Lage, eine große, schwere MDF-Platte scheinbar mühelos anzuheben. Form und Idee verschmelzen hier zu einer äußerst vitalen Arbeit, die vor Energie und Kraft nur so strotzt.
… Die Mindscapes betitelten Werke sind beispielhaft für die fortwährende Suche der Künstlerin nach Antworten in einer zunehmend komplexen Lebenswirklichkeit. Weimers Arbeiten basieren auf einem holistischen Grundverständnis der Welt als lebendiges Netzwerk, in dem alles mit allem zusammenhängt und sich wechselseitig bedingt. Dies zu vermitteln, ist ihr ein dringliches Anliegen. Systemische Strukturen, die Mikro- und Makrokosmos wie auch jedem menschlichen Denken und Sein zugrunde liegen, nimmt sie dabei ebenso ins Blickfeld wie Kettenreaktionen in einer bedrohten Umwelt. Kunst ist für Birgitta Weimer nie bloßer Selbstzweck und immer mehr als eine physische Auseinandersetzung mit dem gewählten Werkstoff: Ihr geht es um die Visualisierung von Ideen in Materie, um ein Denken mit den Händen.