Timo Skrandies: Interaktionen anderer Welten - Birgitta Weimers Kunst

..."Als „visuelle Analogien" sind die Arbeiten von Birgitta Weimer "immer auch Mischwesen, tragen hybride Mischungsverhältnisse jenseits eindeutiger Wissensformen namens ‚Wissenschaft', ‚Natur', ‚Technologie' oder ähnlichem aus. Versuchen wir daher, nicht mehr von ‚der Natur' oder ‚der Wissenschaft' zu sprechen, nicht mehr zu sprechen von ‚Natur und Wissenschaft' oder von ‚Kunst versus Wissenschaft'. Vielleicht hilft uns dabei – noch bevor wir richtig begonnen haben – eine Überlegung zu den „Wesen der Fiktion", mit denen wir seit so langer Zeit koexistieren und die die schier unendlichen Galaxien der Fiktionalität bewohnen und beleben...

Kunstwerke sind solche „Wesen der Fiktion"; sie existieren als solche inmitten von uns. Und wir leben mit ihnen in einer ganz besonderen Beziehung, die, wie wir noch sehen werden, von eigentümlich netzwerkartiger Qualität ist und die Bruno Latour folgendermaßen beschreibt: „Zu sagen, daß die Wesen der Fiktion die Welt bevölkern, heißt, daß sie zu uns kommen und sich aufzwingen, wobei sie aber diese Besonderheit haben, daß sie nichtsdestoweniger [...] unserer Fürsorge bedürfen. [...] [W]enn wir sie nicht wiederaufnehmen, wenn wir uns nicht um sie kümmern, wenn wir sie nicht wertschätzen, laufen sie Gefahr, ernstlich zu verschwinden. Sie haben demnach dies an Besonderem, daß ihre Objektivität von ihrer Wiederaufnahme durch Subjektivitäten abhängt, die selbst nicht existieren würden, wenn sie sie uns nicht gegeben hätten." (Latour).

...Lange haben wir gedacht, ...Verortung habe Qualitäten einer reinen, klaren und distinkten Umwelt: Subjekt hier, Objekt dort; Kultur hier, Natur dort; Körper hier, Technik dort; Kunst hier, Wissenschaft dort. Doch Verortung ist immer schon ein Gemisch und Gemenge, ist immer schon kontaminiert und heimgesucht durch heterogene Relationen und Verwebungen teils obskurer Akteure. Wie es die Philosophin Jane Bennett auf den Punkt bringt: „The locus of agency is always a human-nonhuman working group." (Bennett)...

Verortung ist ein Resultat von Relationen, die sich als komplexe Wege verknüpft haben. Nehmen wir zwei Beispiele aus dem Feld der Weimerschen Arbeiten (Globules, Messier-Objekte): Blut ist für uns, in uns und meist ganz unbemerkt eine pulsierende Flüssigkeit des Lebens, aber es kann eben auch eine quantifizierbare und differenzierbare Substanz unter dem Mikroskop sein – eine solche Metamorphose ist komplex und verläuft über technische, ökonomische, wissenschaftliche, soziale und andere relationale Operationen (Messungen in Labors und Brennweiten optischer Linsen, Abrechnungen in der Krankenkasse und Software für Statistik, Transport der Substanz durch die Stadt samt Reagenzröhrchen und Kühlaggregaten, Stechen einer Wunde in der Armbeuge, Blutdruck, Mischungspotential von Flüssigkeiten etc.). Solche gemeinsamen Operationen menschlicher und nicht-menschlicher Akteure stiften Zusammenhänge; Relationen, die zum Beispiel letztlich die Isolierung und Bewertung roter Blutkörperchen (Globules) ermöglichen. Doch gleichwie: Weder als pulsierendes ‚Lebenselixier' in unserem Körper noch als Laborsubstanz wird Blut ‚nur' Natur gewesen sein, sondern ist immer auch soziales Wesen, technisches Artefakt, ökonomischer Wertstoff.

Ähnlich die teleskopisch kartographierten Galaxie- und Sternhaufen-Objekte (Messier-Objekte): Messiers Entdeckungen und Vermessungen sind aufgrund der unvorstellbaren raumzeitlichen Entfernungen körperlich unerreichbar. Sind diese Lichtpunkte im Teleskop für uns nicht immer Materie-Ding, romantisch-erhabenes Rätsel und Systemstelle in einer wissenschaftlichen Taxonomie zugleich? Und die Weimerschen Messier-Galaxien potenzieren noch solche Irritationen: Wir stehen inmitten von ihnen und sehen sie auf dem Leuchtkörper ebenso wie auf den Wänden – Wo also kommen sie her und was und wo ist der Raum, in dem wir uns befinden?

...Birgitta Weimers Œuvre ist zweifelsohne ein bedeutender Beitrag zu der nun schon seit einigen Jahrzehnten andauernden Krise der Skulptur (vgl. etwa Vogel): Einer künstlerischen und kunsttheoretischen Dynamik, die die sogenannte Plastik dekonstruiert hat und Objekte hervorbringt, die in je unterschiedlichen Anteilen ebenso dem Wandbild, dem Relief, der Performance, der Medieninstallation, dem Environment u.a. nahestehen können, aber doch auch immer etwas anderes sind – etwas, das jede Gattungstaxonomie überbordet.

Formal und materiell gesehen gehören Weimers Arbeiten teils zu einem künstlerischen Feld, das sich kritisch-produktiv mit dem Erbe des Minimalismus auseinandersetzt – jener künstlerischen Bewegung seit den 1960er Jahren, die mit ihren specific objects (Donald Judd) auf industriell gefertigte Materialien und Bauteile setzte, mithin auf eine Anonymisierung und Dissimulation des Materials ebenso wie des Produktionsprozesses. Künstler wie Richard Serra und insbesondere Eva Hesse – die einen wichtigen point de départ für Birgitta Weimer darstellt – suchten dann nach ästhetischen Lösungen, die die Materialität der Arbeiten mit der Leiblichkeit der Rezeption (bei Raum- und Zeitwahrnehmungen etwa) intensiv miteinander in Schwingung zu bringen versprachen.

Solche Interferenzen von Bildkörper und Körperbild stellen sich bei Weimers Arbeiten allenthalben ein und begründen in ästhetischer Hinsicht die obige Frage nach dem Modus ihrer Arbeiten als Dinge. Als Dinge treten sie aus einem eher passiven Status, der ihnen als Objekt zukommt, heraus, erlangen Handlungsmacht, indem sie uns darüber verunsichern, was sie eigentlich sind. Mit Blick auf ihren anhaltend und beunruhigend unklaren Status können diese Wesen in Weimers Kosmos, jene Wahrscheinlichkeitswolken, Messier-Objekte, Globules, Medusae, Transmitter, Survivors, Traurige Tropen, Sphären, Augenblicksblasen etc. als „epistemische Dinge" charakterisiert werden: Denn es sind „nicht nur Objekte im engeren Sinn, es können auch Strukturen, Reaktionen, Funktionen sein.

Als epistemische präsentieren sich diese Dinge in einer für sie charakteristischen, irreduziblen Verschwommenheit und Vagheit. [...] Solche Vorläufigkeit ist unvermeidlich, denn epistemische Dinge verkörpern, paradox gesagt, das, was man noch nicht weiß." (Rheinberger) Birgitta Weimer erschafft Werke als Wesen, die einen „Bildakt" (Bredekamp) vollführen, der in der Lage ist, die Zusammensetzung unserer Welt vielfältiger Wesen ontologisch zu verändern und zu verschieben, Iterationen vorzunehmen. Und es scheint fast so, als wollten sie sich damit (auch) an jenen rächen, die unseren geschichtlichen Ort, den wir vermehrt als „Anthropozän" zu bezeichnen lernen (vgl. etwa Crutzen u.a.), in wissenschaftlicher Hinsicht als eine Vernetzung von technologischer Entwicklung, wissenschaftlicher Modellrationalität und biologisch-physikalischer Systematisierung allererst vermessen, und damit in gewisser Weise hervorgebracht haben: Charles Messier, Alexander von Humboldt, Carl Friedrich Gauß, Charles Darwin, Gregor Mendel, Werner Heisenberg ...

Jene hybriden Dinge Birgitta Weimers koexistieren nun schon seit einigen Jahren mit uns und bewohnen unsere Räume. Und zugleich mit ihrer fast unheimlichen Fragwürdigkeit als epistemische Dinge, sind sie als soziale Wesen das, was zunächst Michel Serres, dann auch Bruno Latour, als „Quasi-Objekte" bezeichnet hat – sie „zirkulieren in Netzen und überqueren die Grenzen von Sprache, Sozialem, Realem. [Es sind] Hybriden, Mischwesen aus Natur und Gesellschaft, aus Sprachlichem und Realem. Es sind jene Dinge, durch die das soziale Band geknüpft und stabilisiert wird. Der Begriff [„Quasi-Objekt"] verweist auf unser Verflochtensein mit Dingen in Gesellschaft; Dinge zirkulieren zwischen uns, um uns herum; und wenn sie uns wie selbstverständlich zur Hand sind, kann man sie kaum als abgesonderte, abgegrenzte Objekte bezeichnen." (Roßler)

...Als Objekte mögen sie schlicht schöne Kunstwerke sein, als Dinge erschüttern sie unsere eingewohnten Ordnungen und Vermessungen der Welt (Kehlmann) und dekonstruieren damit auch unsere eigene Position als Subjekt im Angesicht ihrer. Das ist ihr Bildakt. Er wird möglich an einem scheinbar vorläufigen Ende einer Reise, die sie hinter sich haben, wenn sie als Werke und Wesen Weimers an unserem Ort in Erscheinung treten. Sicher: Die Künstlerin Birgitta Weimer hilft ihnen dabei (ganz im Sinne der Latourschen „Fürsorge"), doch zu den Räumen der Reiserouten, die diese „Wesen der Fiktion" zurücklegen, haben wir keinen Zugang. Irgendwo zwischen biowissenschaftlichen Laboren, den Systemen physikalischer Grundlagentheorien, astronomischen Tiefenräumen und -zeiten, den Strömungen der Weltmeere, mathematischen Modellen und geologischen Formationen gab es Verknüpfungen, Abzweigungen, Schlaufen, Rhizome und gekerbte Räume, in denen sie sich nach und nach über(ge)setzt, transformiert, stabilisiert und schließlich materialisiert haben – als Iterationen anderer Welten.

Timo Skrandies, September 2017

 

... "As "visual analogies," Birgitta Weimer's works "are always also hybrid beings, carry out hybrid mixing relationships beyond unambiguous forms of knowledge called 'science,' 'nature,' 'technology,' or the like. Let us therefore try to stop speaking of 'nature' or 'science', to stop speaking of 'nature and science' or of 'art versus science'. Perhaps a reflection on the 'beings of fiction' with whom we have coexisted for so long and who inhabit and animate the almost infinite galaxies of fictionality will help us to do this - even before we have really begun....

Works of art are such "beings of fiction"; they exist as such in the midst of us. And we live with them in a very special relationship, which, as we shall see, is of a peculiarly network-like quality, and which Bruno Latour describes as follows: "To say that the beings of fiction inhabit the world is to say that they come to us and impose themselves, while having this peculiarity that they nevertheless [...] require our care. [...] [W]hen we do not welcome them back, when we do not take care of them, when we do not value them, they run the risk of seriously disappearing. They have, accordingly, this in particular, that their objectivity depends on their reabsorption by subjectivities that would not themselves exist if they had not given them to us." (Latour).

...For a long time we thought ...localization had qualities of a pure, clear and distinct environment: subject here, object there; culture here, nature there; body here, technology there; art here, science there. But localization is always already a mixture, is always already contaminated and haunted by heterogeneous relations and interweavings of partly obscure actors. As philosopher Jane Bennett puts it in a nutshell: "The locus of agency is always a human-nonhuman working group." (Bennett)...

Locus is a result of relations that have linked as complex pathways. Let us take two examples from the field of Weimer's work (Globules, Messier objects): Blood is for us, in us and mostly quite unnoticed a pulsating fluid of life, but it can just as well be a quantifiable and differentiable substance under the microscope - such a metamorphosis is complex and proceeds via technical, economic, scientific, social and other relational operations (measurements in laboratories and focal lengths of optical lenses, accounting in health insurance and software for statistics, transport of the substance through the city including reagent tubes and cooling aggregates, pricking of a wound in the crook of the arm, blood pressure, mixing potential of liquids etc.). ). Such joint operations of human and non-human actors establish connections; relations that, for example, ultimately enable the isolation and evaluation of red blood cells (globules). But equally: Neither as a pulsating 'elixir of life' in our bodies nor as a laboratory substance will blood have been 'only' nature, but is always also a social being, a technical artifact, an economic valuable substance.

Similarly, the telescopically mapped galaxy and star cluster objects (Messier objects): Messier's discoveries and surveys are physically inaccessible due to the unimaginable spatiotemporal distances. Aren't these points of light in the telescope for us always matter-thing, romantic-sublime enigma and system point in a scientific taxonomy at the same time? And the Weimer Messier galaxies potentiate still such irritations: We stand in the middle of them and see them on the luminous body as well as on the walls - So where do they come from and what and where is the space we are in?

...Birgitta Weimer's oeuvre is undoubtedly a significant contribution to the crisis of sculpture that has now been going on for several decades (cf. Vogel, for example): An artistic and art-theoretical dynamic that has deconstructed the so-called sculpture and produces objects that, in varying proportions, can be just as close to the mural, the relief, the performance, the media installation, the environment, and so on, but are also always something else - something that overrides any taxonomy of genre.

From a formal and material point of view, Weimer's works belong in part to an artistic field that critically and productively deals with the legacy of Minimalism - the artistic movement since the 1960s that, with its specific objects (Donald Judd), relied on industrially manufactured materials and components, and thus on an anonymization and dissimulation of the material as well as of the production process. Artists such as Richard Serra and especially Eva Hesse - who represents an important point de départ for Birgitta Weimer - then sought aesthetic solutions that promised to bring the materiality of the works into intensive vibration with the corporeality of reception (in the perception of space and time, for example).

Such interferences of image-body and body-image appear everywhere in Weimer's works and justify, from an aesthetic point of view, the above question about the mode of her works as things. As things, they step out of a rather passive status that belongs to them as objects, attaining agency by unsettling us about what they actually are. In view of their persistently and disturbingly ambiguous status, these beings in Weimer's cosmos, those probability clouds, Messier objects, globules, medusae, transmitters, survivors, sad tropes, spheres, instantaneous bubbles, etc., can be characterized as "epistemic things." For they are "not only objects in the strict sense, they can also be structures, reactions, functions.

As epistemic, these things present themselves in an irreducible haziness and vagueness that is characteristic of them. [...] Such provisionality is inevitable, for epistemic things embody, paradoxically, that which is not yet known." (Rheinberger) Birgitta Weimer creates works as beings that perform a "pictorial act" (Bredekamp) capable of ontologically altering and shifting the composition of our world of manifold beings, of iterating. And it almost seems as if they (also) want to take revenge on those who first measured our historical place, which we increasingly learn to call the "Anthropocene" (cf. for instance Crutzen et al.), in scientific terms as an interconnectedness of technological development, scientific model rationality, and biological-physical systematization, and thus in a certain way brought it forth: Charles Messier, Alexander von Humboldt, Carl Friedrich Gauss, Charles Darwin, Gregor Mendel, Werner Heisenberg ...

Those hybrid things of Birgitta Weimer's have been coexisting with us and inhabiting our spaces for several years now. And at the same time, with their almost uncanny dubiousness as epistemic things, they are, as social beings, what first Michel Serres, then also Bruno Latour, called "quasi-objects" - they "circulate in networks and cross the boundaries of language, social, real. [They are] hybrids, hybrids of nature and society, of the linguistic and the real. They are those things through which the social bond is woven and stabilized. The term ["quasi-object"] refers to our being intertwined with things in society; things circulate between us, around us; and when they are at our fingertips as a matter of course, they can hardly be called separate, delimited objects." (Rossler)

..As objects they may be simply beautiful works of art, as things they shake up our accustomed orders and measurements of the world (Kehlmann) and thus also deconstruct our own position as subject in the face of them. That is their pictorial act. It becomes possible at a seemingly provisional end of a journey that they have left behind, when they appear as Weimer's works and beings in our place. Certainly: the artist Birgitta Weimer helps them (quite in the sense of Latour's "care"), but we have no access to the spaces of the travel routes that these "beings of fiction" cover. Somewhere between bioscientific laboratories, the systems of basic physical theories, astronomical deep spaces and times, the currents of the world's oceans, mathematical models, and geological formations, there were links, branches, loops, rhizomes, and notched spaces in which they gradually (over)settled, transformed, stabilized, and finally materialized-as iterations of other worlds.

Timo Skrandies, September 2017